J. Schrödl u.a. (Hrsg.): Theater∗ in queerem Alltag und Aktivismus

Cover
Titel
Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre.


Herausgeber
Schrödl, Jenny; Wittrock, Eike
Erschienen
Berlin 2022: Neofelis Verlag
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Steffen, Fachbereich Geschichte – Arbeitsfeld Public History, Universität Hamburg

Queere Geschichte(n) waren in unserer Gesellschaft noch nie so sichtbar wie heute. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist und über Jahrzehnte erkämpft wurde, zeigen Erkenntnisse der Queer History. Doch wer nutzte welche Bühnen? Und mit welchen (auch künstlerischen) Mitteln arbeiteten queere Communitys? Es überrascht nicht, dass der von Jenny Schrödl und Eike Wittrock herausgegebene Band nicht nach „queerem Alltag und Aktivismus“ im Theater fragt, sondern im „Theater∗“. Das Sternchen ist hier weit mehr als eine zeitgemäße Form, um Vielfalt anzuzeigen. Es steht zum einen für eine konzeptionelle Erweiterung des Theatralitätsbegriffs nach Rudolf Münz, der eine Bandbreite vom Kunsttheater bis zum Theater des Alltags abdeckt. Zum anderen signalisiert der Asterisk die Diversität unterschiedlicher Genres und Untersuchungsgegenstände in ihren Wechselwirkungen mit der LGBTQI∗-Kultur der 1970er- und 1980er-Jahre. Die Bandbreite der untersuchten Themen ist groß; sie reicht von öffentlichen Protestinszenierungen über schwulem und lesbischem Theater, queeren Spoken Words und Ästhetiken in der Popmusik bis zu neuen Aufführungsorten und verborgenen Performances. Mit dieser Vielfalt verfolgen die Herausgeber:innen durchaus programmatische Ziele, so will der Band „in die derzeitige Historisierung der queeren Geschichte in Deutschland intervenieren, die sich auf wenige ‚heroische‘ Figuren fokussiert“ (S. 11).

Die 16 Beiträge umfassen sowohl wissenschaftliche Aufsätze als auch Zeitzeug:inneninterviews und historisches Quellenmaterial. Die Hälfte davon geht auf eine gleichnamige Tagung im Oktober 2018 in Berlin zurück.1 Einen theaterhistoriografischen Überblick samt Einordnung bieten vor allem die beiden Texte der Herausgeber:innen, in denen sich Schrödl dem Lesbentheater und Wittrock dem schwulen Theater widmet.

Lesbisches Theater setzte in den 1970ern auf Humor, Unterhaltung und Erotik. Dass solche Formen keinesfalls unpolitisch waren, ordnet Schrödl in ihrem Beitrag über das Lesbentheater ein. Seit Mitte der 1970er entwickelte sich bei lesbischen Frauen auch ein öffentliches Bewusstsein für ihre Rolle als doppelt Unterdrückte, das sowohl Ausdruck in zunehmenden Veranstaltungen, Performances, Partys und Treffs fand, also auch in entstehenden Verlagen, Zeitschriften und Publikationen. Anknüpfend an Jack Halberstam2 sieht Schrödl im deutschen Lesbentheater zwar Motive des queer failure, teilt jedoch nicht die Setzung der queer negativity, nach der selbst lustige, ironische oder campe Aufführungen durch tiefliegende Negativität, Dunkelheit und Schmerz als Teil von Identität gekennzeichnet sind. Im Gegenteil arbeitet Schrödl die These einer lesbian positivity heraus, die verstärkt positive Bilder zu produzieren versucht.

Um den Beitrag von Schrödl gruppieren sich Interviews und Aufsätze, die exemplarisch Formen und Akteurinnen sichtbar machen, die die Entwicklung performativer Ansätze aus weiblicher Hand geprägt haben. Selbstbewusstsein und Selbstermächtigung von Frauen im Theater in einer Zeit männlicher Dominanz thematisiert Renate Klatt im Gespräch über das 1. Internationale Frauen-Theaterfestival 1980 in Köln. Am Beispiel der West-Berliner Punkband Malaria! zeigt Katharina Rost die Diversifizierung lesbischer Kultur, mit der eine zunehmende Abspaltung von der Frauenbewegung einherging: Ihre androgynen Figuren (Garçonne) und maskulinen Darstellungen (Butch) blieben in der lesbischen Szene nicht unumstritten, trafen aber auf große Resonanz und wurden „in die lesbische Ikonografie integriert“ (S. 106). „Schiefe Kunst“ ist das Gespräch mit Künstlerin und Filmemacherin Gabriele Stötzner überschrieben; diese Formulierung greift den Blick des SED-Regimes und insbesondere der Stasi auf Kunst aus der queeren Szene auf. Stötzner, die selbst ein Jahr in einem DDR-Gefängnis einsaß, sah in der Kunst einen Akt der politischen Selbstbestimmung und wusste doch, dass die SED mitinszenierte: Mit „zersetzender Kreativität“ (S. 122) fand die Stasi Wege, um Künstler:innen-Gruppen zu infiltrieren und mit dem Argument vermeintlicher sexueller Devianz zu erpressen.

Das Interview von Lea-Sophie Schiel mit JohJac Kamermans hebt sich in zweierlei Hinsicht ab: Zum einen kommt hier eine bereichernde Transperspektive zum Tragen. Zum anderen betont Kamermans entgegen anderen Beiträgen die sogar doppelt unpolitische Haltung in seiner Kunst: Weder habe er das Spiel mit den Geschlechterrollen als „Theater der Verführung“ (S. 200f.) in der Cabaret-Kultur heteronormierter westdeutscher Striplokale und Bordelle der 1970er-Jahre als politisch wahrgenommen, noch sei sein Handeln durch die politische Entwicklung beeinflusst worden.

Der zweite Leitartikel des Bandes von Eike Wittrock verortet die Geburtsstunde des schwulen Theaters ins Jahr 1976 in Hamburg. Am Beispiel von Brühwarm, zu dem auch der heutige Hamburger Theater-Magnat Corny Littmann gehörte, zeigt Wittrock, wie aus einer Keller-Inszenierung für die eigene Community ein erfolgreiches und politisches Tournee-Theater wurde. Schwules Theater könne als „ästhetische Form des Coming-Out“ (S. 291) begriffen werden, das sich nach und nach Öffentlichkeiten erarbeitete, die aber mit Beginn der AIDS-Krise infrage gestellt wurden.

Wie politisch die Szene agierte, zeigen einige weitere Beiträge: Simon Schultz knüpft ebenfalls an Corny Littmann – 1980 Bewerber um ein Bundestagsmandat für die GAL – sowie die Theaterszene seines Umfeldes an und thematisiert den sogenannten Hamburger Spiegel-Skandal von 1980. Unter Zuhilfenahme der Akteurs-Netzwerk-Theorie untersucht Schultz, wie die öffentlich inszenierte Protestaktion gegen die gesetzeswidrige Überwachung Homosexueller durch die Hamburger Polizei verlief, wer daran wie beteiligt war und in welchen Settings diese Aktion Erfolg haben konnte.

Die Straße als politische Bühne untersucht Dorna Safaian in ihrem Beitrag. Sie zeigt auf, wie der Rosa Winkel als frühere exkludierende Kennzeichnung in Konzentrationslagern in der Mitte der 1970er-Jahre durch die Schwulenbewegung (in West-Berlin) zum emanzipatorischen Erkennungszeichen wurde. Das Tragen des Winkels als Emotionspraktik wurde, so Safaian, „als ein Mittel verstanden, sich in eine Viktimisierungsgeschichte einzuschreiben und die politischen Forderungen der Bewegung zu historisieren“ (S. 214). Am sogenannten Tuntenstreit zeigt die Autorin die Diversifizierung der Protestkultur durch die kontroverse Diskussion, in welcher Art und Weise homosexuelle Protestöffentlichkeit sichtbar sein soll. Typische Formen der etablierten linken Protestbewegungen wurden nach und nach durch eine „neue Sichtbarkeit positiver homosexueller Lebenswelt“ abgelöst (S. 231).

Jayrome C. Robinet untersucht – ebenfalls am Beispiel West-Berlins – das Genre Spoken Word als „kreatives Ventil für verschiedene emanzipatorische Protestbewegungen“ (S. 162). Mit seinen Ursprüngen in der queeren und PoC-Community der USA in den 1950er-Jahren fanden Spoken-Word-Künstler:innen mit queeren literarisch-performativen Auftritten zunehmen auch in Deutschland ein Publikum. Robinet geht sogar so weit zu resümieren, dass Spoken Word „de facto einen genuinen Beitrag zur Konstitution von schwulen und lesbischen / feministischen Subkulturen darstellt“ (S. 187).

Sammelbände – insbesondere jene, die auf Grundlage wissenschaftlicher Tagungen entstehen – laufen stets Gefahr, unzusammenhängende Beiträge zu vereinen, die zwar individuelle, aber keine übergeordneten Mehrwerte bieten und kaum neue Erkenntnisse hervorbringen. Nicht so in diesem Fall. Auch wenn die Herausgeber:innen auf dem Klappentext betonen, dass die Themen nur „schlaglichtartig“ beleuchtet werden können, so öffnet der Band mit seiner programmatischen Weitung des Theatralitätsbegriffs durchaus (theater-)historiografische Perspektiven auf die queere Geschichte des späten 20. Jahrhunderts. Trotz Bemühens um vielfältige queere und deutsch-deutsche Perspektiven liegt ein erkennbarer analytischer Schwerpunkt auf der westdeutschen Geschichte und der Schwulenbewegung, was auf die Quellen- und Forschungslage zurückzuführen ist. Die ergänzenden Zugänge zeigen aber das große Potential für die weitere Forschung auf.

Für zukünftige Forschungen wäre wünschenswert, verstärkt Netzwerke und ihre Diskurse in den Blick zu nehmen. Insbesondere wenn die Verbindung zwischen Kunst, Alltag und Aktivismus untersucht wird, lohnt eine tiefergehende Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Theater und Debatten beispielsweise um HIV/Aids, die Paragrafen 175 und 218 oder das gesellschaftspolitische Konzept der „freie Liebe“. Letztere ging beispielsweise in den 1980er-Jahren in eine umstrittene Debatte um die Legalisierung von Pädophilie über.3 Auch eine Einordnung in internationale Entwicklungen bleibt ein lohnendes Thema zukünftiger Forschung.

Nicht zuletzt zeigen die bereichernden Beiträge des Bandes, dass Theaterschaffende der 1970er- und 1980er-Jahren oft auch die eigene Geschichte bzw. die Viktimisierungsgeschichte der eigenen Community thematisierten. Inwiefern dabei bewusst Elemente des dokumentarischen Theaters zur Verstärkung und Authentifizierung genutzt wurden, ist ein Thema, das nach der Lektüre mindestens das Interesse des Rezensenten geweckt hat.

Anmerkungen:
1 Theater in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre, Call for Papers für eine Tagung vom 11.–12.10.2018 in Berlin, in: H-Soz-Kult, 22.07.2018, https://www.hsozkult.de/searching/id/event-87542 (17.02.2023).
2 Jack Halberstam, The Queer Art of Failure, Durham 2011.
3 Auch hier positionierte sich Corny Littmann; vgl. Jürgen Dahlkamp / Gunther Latsch / Andrea Müller, „Du hast die Kinder der Stadt gefickt“, in: Der Spiegel 5/2023, S. 38–42.

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